November - Dezember 2016
Spike Robinson 1992 | Ray Brown, Spike Robinson | Elly Wright, Spike Robinson |
Die Vor- und Nachmittage, an denen Eddie "Lockjaw" Davis in unserer Wohnung verbrachte, frühstückte und sein "Office" erledigte, Platten hörte und über Jazz und die Welt plauderte, gehören für meine Frau Tilly und mich zu den schönsten Erinnerungen unseres Lebens mit dem Jazz.
Eddie trank "a little tea", wollte gebutterten Toast mit "crispy bacon" ("but very fast please!") und dann tippte er mit zwei Fingern (so wie ich) seine typischen, witzig-kurzen Briefe in alle Welt.
Dann hörten wir Jazz – am liebsten hatte er Bigbands (Count Basie natürlich und den Duke – Benny Goodman etwas weniger) und Tenorsaxophonisten. Coleman Hawkins und Ben Webster, Ike Quebec (seinen einzigen, kurzfristigen Lehrer) und Don Byas, Chu Berry und Lucky Thompson, Lester Young und Paul Quinichette. Er erzählte mir unzählige Geschichten, die man hier nicht wiedergeben kann, und andere, die man in den Büchern über Jazzgeschichte vergeblich sucht – etwa die Tatsache, daß Arnett Cobb, als erster das legendäre Solo über "Flying Home" spielte, das man allgemein Illinois Jacquet zuschreibt.
Und immer wieder erwähnte er einen – mir bis dahin vollkommen unbekannten – Tenorsaxophonisten namens Spike Robinson, der irgendwo in Colorado an einem College unterrichtet und nur am Wochenende mehr zu seinem Vergnügen als zum Broterwerb in der näheren Umgebung seines Wohnortes mit lokalen Musikern und durchreisenden Stars jazzt.
"This man is a sensation. He knows more songs than myself plus the whole Basieband, including the Count!" bekräftigte Eddie seine Vorliebe für Spike.
Eddie verließ uns 1986 für immer, Spike ging 1985 in Pension und wurde mit 55 Jahren ernsthaft Jazz-Profi. Ich bin sicher, die beiden hätten ein kongeniales Team gebildet, wenn unser "Ederl" noch hier wäre.
1991 bot mir die britische Agentin Susan May sehr wortreich einen Musiker an, von dem sie annahm, daß ich ihn nicht kennen würde: Spike Robinson.
Natürlich engagierte ich ihn sofort, denn Eddie's Worte und Ratschläge werden bei uns immer Gültigkeit haben, und es begann eine gleichermaßen lust- und leidvolle Fortsetzungsgeschichte in fünf einwöchigen Gastspielen in 6 Jahren.
Lustvoll, weil – wie Eddie es gesagt hatte – dieser Spike Robinson tatsächlich ein Gigant ist, der einen prominenten Platz in der Geschichte des Tenorsax im Jazz einnehmen müßte, ein stets fast genialer und immer überraschender Solist und unwahrscheinlich einfallsreicher Improvisator, wie man nur wenige kennt.
Leidvoll, weil der gute Spike eben so viele Lieder kennt. Jeden Tag kam er mit einem dicken Paket eng beschriebener Notenblätter in den Keller, teilte diese an seine Mitmusiker aus, und die armen Herren Michael Starch, Charlie Ratzer, Gerd Bienert, Christian Plattner, Aaron Wonesch, T.C.Pfeiler, Heribert Kohlich, Herbert Swoboda und viele andere sahen sich mit einem ihnen vollkommen unbekannten Material konfrontiert, das, nicht einmal besonders deutlich und übersichtlich geordnet, sogar die allerbesten unserer "Notisten" schlicht überforderte.
Ich versuchte es mit allen möglichen Tricks, ich verwendete gute Worte und sanfte Drohungen, ich lockte mit zusätzlichen Bierrationen – aber es half nichts. Er spielte herrliche Lieder von allen Großen Songwritern, die alle nur zwei Nachteile hatten: es kannte sie niemand, und sie waren sauschwer zu spielen. Und dann hatte ich noch eine rettende Idee – ich setzte eine Band mit der vagen Hoffnung an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ein, daß der liebe, gute Spike die Chance nützen würde, um die am ersten Tag erarbeiteten Songs am zweiten Tage mit dem unbedingt notwendigen Feinschliff zu versehen.
Keine Chance – er kam mit einem völlig neuen "Songbook", und die vom ersten Tage schon schwer angeschlagenen Wiener Meisterjazzer mußten mit Riechsalz und Marillenbrand vom Franz Grill aus Fels am Wagram gelabt werden.
Inzwischen hat Spike seine Agentin geheiratet (was ihn ja auch hätte beruhigen können), aber ich höre von allen möglichen Musikern, die mit ihm meist in England jazzen noch immer wahre Horror-Geschichten über Dezimeter dicke Notenstapel, die er bei jedem Auftritt – und sei es auch mit arrivierten Stars wie George Masso oder Ken Peplowski – anschleppt, um diese zu einer zwar immer sehr schönen und spannenden, aber auch überaus anstrengenden Aufführung zu bringen.
"Wenn er doch nur einmal den C-Jam Blues spielen würde", seufzte ein ebenfalls überforderter Stammgast, denn nicht nur die Interpretation sondern auch die Konzentration auf ein immerwährend neues Material ist sehr anstrengend.
Und trotzdem – ich freue mich schon sehr auf ein "Wiederhören" mit ihm und bin gespannt, wann ihm einmal die neuen Lieder ausgehen.
Er ist ja erst 72 Jahre alt.
P.S.: Diese Geschichte stammt aus dem "30 Jahre JAZZLAND"-Buch aus dem Jahr 2002, das leider auch schon vergriffen ist – daher diese kleine Ergänzung: Spike verstarb 2001 in Großbritannien.