Story des Monats

Juli - August 2013


Kapitel 21 einer (möglichst) langen Serie .....
Axel Melhardt Axel Melhardt plaudert:

 
Wikipedia
 

Von kleinster Kindheit an war ich ein Leser.

1944 wurden wir ausgebombt (für die Jungen: Bombe ins Haus, Haus weg, Unterschlupf bei Bekannten gesucht). Wir landeten in einer skurrilen Büro/Fabrik-Wohnung, in der es neben Konzerten und Liederabenden auch ein Mini-Fließband für Wimperntusche und eine in vielen Schuhschachteln untergebrachte Buchführung samt Im- und Export-Korrespondenz gab.

Und es gab Bücher.

Zwischen den Bilderschinken an den Wänden gab es Regale, auf dem "Bösendorfer" gab es Stöße und in den Schränken unter den Kleidern stapelten sich Romane und Klavierauszüge, Bildbände und andere Folianten und dazwischen – für einen Dreijährigen besonders interessant, weil bebildert – Lexika aller Art, aller Jahrgänge und über alle Themen.

In dem Haushalt gab es neben meinen streit- und scheidungswilligen Eltern noch eine uralte Tante Helene, eine gelähmte Tante Nussy, einen ebenso witzigen wie gräflichen Onkel Hugo und noch weitere "alte Leute" (darunter auch den greisen HANS PFITZNER), die man mit einem neugierigen Lächeln und freundlichem Augenaufschlag zu kurzen Vorleseminuten überreden konnte.

So lernte ich ohne es zu bemerken im halben Volksschulalter lesen, und die so überaus bunt gemischte Menschenschar in der etagenumspannenden Wohnung in der Hegelgasse war erleichtert, daß der altersmäßige Außenseiter mit seiner blöden Fragerei endlich aufgehört hatte.

Ein Geschichtslexikon hatte es mir besonders angetan – es hieß (wie ich mich erinnere) "Die Bärte", denn in der bartlosen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Abbildungen der behaarten Ritter und Könige aus vielen Jahrhunderten ebenso außergewöhnlich wie (um das entsetzliche Modewort der Jahre ab 2010 zu gebrauchen) "spannend" und bald war für mich der Herr von Berlichingen ein Ritter aus dem Neckartal und nicht der Erfinder einer Einladung zu einer intimen Goethe-Feier.

Zeitsprung um rund 60 Jahre in die Nähe der Gegenwart.

Aus einem mir heute nicht mehr erinnerlichen Grund suchte ich in der "Wikipedia" zusätzliche Informationen über einen Bluessänger namens THOMAS SHAW, der in den 70-er Jahren im 'landl aufgetreten war und fand unter einem Kurzartikel über den ebenso unbekannten wie unterschätzten Giganten den Hinweis

Thomas Shaw im 'Jazzland', Wien, 1972

und landete zu meiner grenzenlosen Verblüffung auf unserer eigenen Homepage www.jazzland.at.

Ähnliches passierte mir bei DOROTHY DONEGAN und aus einem erfreuten Erstaunen über die Tatsache, daß das JAZZLAND (und damit auch ich) als Referenz in einem Lexikon stehen, ist inzwischen tiefer Respekt für ein grandioses Projekt geworden und es ist mir vollkommen klar, daß die gängigen (gedruckten) Lexika sich in einem aussichtslosen Todeskampf befinden, denn die Wikipedia ist ihnen in allen Belangen selbstverständlich turmhoch überlegen.

Denn wenn z.B. jemand wie ich sich in vielen Jahren des JAZZLAND-Daseins ein umfangreiches Wissen über ein Spezialgebiet (den klassischen Jazz, eben) angeeignet hat, und dieses an den Brockhaus oder den Meyer weitergeben will, muß er (wenn das in diesen Verlagshäusern überhaupt jemanden interessiert) Jahre warten, bis er seine Ergüsse in gedruckter Form wiederfindet.

Wie schnell und unproblematisch das bei der Wikipedia funktioniert, habe ich nach kürzeren Experimenten erleben dürfen:

Man ist registriert und die ersten Einträge verschwinden fast sofort wieder und tauchen erst nach längerer Kontrolle wieder auf (oder ganz selten auch nicht) – je länger man mitarbeitet, desto kürzer wird diese Frist und ich habe fast den Verdacht, daß nach einigen Monaten überhaupt nicht mehr kontrolliert wird: die Administratoren kennen einen schon, vertrauen einem und so sind in letzter Zeit meine Ein- und Beiträge eigentlich sehr stabil und unverändert zu lesen gewesen.

Was mir an der WIKI besonders sympathisch ist, ist das weitgehende Fehlen der strengen (und dadurch oft weit überzogenen) Seriosität – immer wieder findet man Anflüge von Humor und oft leuchtet der "Spaß an der Freude" durch. Es gibt nicht nur trockene Fakten und Tatsachen, sondern man merkt in vielen Artikeln auch die "Liebe" zum gewählten Thema und vielleicht auch die "innere Begeisterung" der Autoren.

So findet man auch immer wieder "Trivias" – Anekdoten, gleichsam Kurz-Kurzgeschichten, die den Charakter und die Schattierungen einer Persönlichkeit illustrieren und verständlich machen und so das Portrait eines Menschen vervollkommnen und abrunden.

Hier nun einige solcher "Trivias", die ich eingegeben habe. Sie mögen für die Stammgäste auf der JAZZLAND-Seite bekannt und vertraut sein, aber es schadet vielleicht nicht, sie hier gesammelt vorzustellen:

Dorothy Donegan

Als ihr Durchbruch im US-Jazzgeschäft nicht sogleich und raketenhaft glückte, ging sie vom 1945 gegründeten Jazztrio - mit dem sie eine 78er für das kleine Label Continental einspielte - wieder zu Solodarbietungen über und überlegte auch, in den klassischen Konzertbetrieb zu wechseln. Doch stattdessen arbeitete sie in den Nachtclubs von Chicago und unterhielt mit Jazz-Standards und Evergreens das dortige "mehr als anspruchslose Publikum, das mehr auf Beine, Busen und Po achtete als auf ihre kompetent rollende Linke" (so Axel Melhardt, der Betreiber des Wiener Jazzlokals Jazzland).

Blind John Davis

Eine der charakteristischsten Eigenheiten in seinem variantenreichen Klavierspiel war eine rollende Bassfigur mit der linken Hand, die seine Improvisationen mit der rechten überaus wirkungsvoll unterstützte. Und ich kannte diese Figur, ich hatte sie - auf Platten - von einem anderen Pianisten gehört, und als ich John fragte, woher er diese Phrasen hatte, zögerte er keine Sekunde seine Quelle aufzudecken - und damit meinen Verdacht zu bestätigen: "Das habe ich von einem russischen Pianisten, den Du sicherlich nicht kennst - von einem gewissen Art Hodes, einem weißen Bluespianisten."..... Ein paar Jahre später durfte ich dann voller Ehrfurcht auch Art Hodes im JAZZLAND begrüßen und als ich ihn ein bisschen besser kannte, fragte ich ihn dann ganz vorsichtig, woher er denn diese rollende Bassfigur der linken Hand her habe. "Das weiß ich ganz genau", kam direkt und ohne zu zögern die Antwort, "ich habe sie von einem blinden Bluespianisten aus Chicago, den Du sicherlich nicht kennst - von Blind John Davis." Zitat Axel Melhardt Jazzland WIEN

Herman Foster

Herman Foster war vollkommen blind - nach seinen leicht verworrenen Angaben, wurden ihm bei der Geburt von einer (ungelernten) Hebamme mit der Geburtszange beide Augäpfel aus den Höhlen gedrückt. Trotzdem erkannte er mich sofort, als ich ihn mehr als 3 Jahre nach seinem Jazzland-Gastspiel mit einem einfachen: "Herman!" begrüßte - "Axel, what are you doin' in New York!!!" Auch daß er die US-Geldscheine trotz ihrer identischen Größe perfekt unterscheiden konnte, war fast unerklärlich.... - andere Musiker (Blind John Davis) beklagten sich bitter, daß man ihnen oft "Singles" als "Zehner" ausbezahlt hat..... (Axel Melhardt - Wien)

Bobby Hackett

Hackett war dafür bekannt, daß er niemals schlecht über andere Menschen sprach. Auf einer ausgedehnten Tournee der Eddie Condon-Band versuchten seine Kollegen aus ihm eine negative Bemerkung zu einem Mitmenschen herauszulocken, was wie immer vollkommen mißlang. Wild Bill Davison holte eines Abends zum - vermeintlich - ultimativen Schlag aus: "Bobby", wollte er wissen, "was hältst Du von Adolf Hitler?" Nach kurzem Nachdenken kam die für Bobby typische Antwort: "Nun, auf seine Art war er der Beste!" (Well, he was the best in his field!")

Art Hodes

Als in den späten 70-er Jahren seine Ehefrau Thelma starb, wollte sich Art Hodes aus dem Musikerleben zurückziehen. Er sagte alle Verpflichtungen ab und saß resigniert vor seinem TV-Gerät in Park Forrest bei Chicago. Nach mehreren Monaten kam ein Anruf des Klarinettisten Kenny Davern: "Ich weiß, Du spielst nicht mehr - aber Du mußt mich retten!! Ich habe ein Wochenengagement in Chicago und mein Pianist hat mich sitzen gelassen. Wenn ich nicht auftrete, muß ich eine riesige Konventionalstrafe zahlen - das kann ich mir nicht leisten!!!" Nach längeren Hin und Her willigte Art ein und fuhr nach Chicago. Nach dem Ersten Set sagte er zu Kenny: "Es geht - ich kann wieder spielen. Es ist herrlich! Wann kommt Dein ursprünglich vorgesehener Pianist?" "Überhaupt nicht", grinste Kenny, "ich hatte gar keinen engagiert - ich wollte Dich nur aus Deiner Lethargie holen!" Und das war ihm gelungen - Art Hodes begann ein neue Karriere, spielte regelmäßig, nahm einige grandiose LPs (auch mit Kenny) auf, schloß im hohen Alter sogar noch ein zweite, sehr glückliche Ehe und ging auf Tournee - im Jazzland in Wien erzählte er mir diese Story.... (Axel Melhardt)

Albert Nicholas

Bei einem seiner in den 60-er Jahren seltenen Besuche in New York logierte Albert Nicholas in einem Hotel in Manhattan und da er abends in einem Jazzclub in Harlem auftrat, bestellte er ein Taxi. Der dunkelhäutige Fahrer wunderte sich über seinen wie immer sehr korrekt gekleideten Fahrgast: "Sir," wollte er wissen, "was machen Sie in dieser Gegend, da geht es ziemlich wild zu?" "Dort ist ein Jazzclub", kam die Antwort, "und ich bin Musiker – ich trete da auf." "Toll", sagte der Fahrer, "und welches Instrument spielen Sie? Vielleicht kenne ich Ihren Namen!" "Ich bin Albert Nicholas", sagte Albert Nicholas. "Wahnsinn", brüllte der Taxifahrer, "mein Vater war Johnny Dodds!!!"

Ike Quebec

Der Tenorsaxophonist Eddie Lockjaw Davis berichtete, daß er von Ike Quebec in den frühen 40-er Jahren wesentliche Unterstützung in seiner musikalischen Entwicklung erhielt. Der Autodidakt, der von seinen Kollegen oft als "Little Ben" tituliert wurde, erfuhr durch Ike sowohl in seiner instrumentalen Technik als auch in seinem Bluesfeeling sehr wesentliche Impulse. Als "Jaws" in 80-er Jahren von den Mosaic-Alben erfuhr, durch die Ike Quebec endlich eine posthume Würdigung erhielt, war er fast zu Tränen gerührt.....

Weitere "Trivialitäten" werden an dieser Stelle sicherlich noch folgen, denn mir fallen immer wieder herrliche, weniger schöne, erfreuliche und selten auch unerfreuliche Details aus dem "Zusammenleben" mit den hunderten Jazzern, die ich im Laufe der Jahrzehnte kennenlernen durfte, ein. Und da ich ein bekannt mitteilsames Wesen bin, werde ich Euch mit diesen Geschichten und G'schichterln weiterhin belästigen..........

P.S.: Eigentlich bin ich noch die Story über die herrliche Reise mit der "Original Storyville Jazzband" auf der Rhone (29.10. - 03.11.2011) schuldig - aber zur Zeit leide ich an einem Überfluß an Zeitmangel und anderen Katastrophen.
Daher kommt der Bericht über die Rhone-Reise knapp vor dem Trip auf der Mosel..... - falls sich aus aktuellen Gründen nicht wieder alles ändert......
Aber so ist das beim Jazz: immer wieder neu, immer wieder überraschend und auch nach Jahrzehnten noch immer nicht langweilig......


© Axel Melhardt
Story