März 2005
Dorothy Donegan p | "Dancing Dorothy" & Bubbling Brown Sugar Girls |
Sie kam in Wien an wie ein großes, verträumtes Mädchen, das von der Welt nicht mehr gesehen hat als sein eigenes Kinderzimmer und den eigenen BÖSENDORFER-Imperial im Wohnzimmer. "Wo ist meine Garderobe?", wollte sie wissen und "Wo kann ich mich zwischen den Shows umziehen und duschen?"
Sie konnte nicht so recht verstehen, daß das JAZZLAND-Gewölbe einige hundert Jahre alt ist und nicht speziell zu Konzertzwecken erbaut wurde. Sie verstand auch nicht, daß wir und auch unser Publikum uns herzlich wenig für ihre Kleidung interessierten - sie hatte für eine Zwei-Wochen-Tournee so an die 40 Abendroben, 30 Paar Schuhe und über 25 Einzelexemplare mitgebracht - und was weiß ich noch für sonstige Accessoires. Schmollend bezahlte sie weit über 100 Dollar an Übergewicht bei der sich die Hände reibenden Fluglinie, und es dauerte lange, bis wir sie überreden konnten, zumindest einen Teil des überflüssigen Krempels per Post in die USA zurück zu transferieren - sie hätte weiterhin alles brav mitgeschleppt und bezahlt und bezahlt.
Da saß sie dann verloren auf dem Bett im Hotelzimmer und sah meiner Frau zu, wie sie all den Glanz und Glitter in diverse Schachteln verpackte. Es war ein Schlachtfeld von Plüsch und Plunder, und als nach Stunden zwischen Stoff und Leder, Tüll und Seide endlich ein Stückchen Parkettboden zum Vorschein kam, entfleuchte meiner TILLY ein gequältes: "Es lichtet sich", was eine immense Situationskomik ins Spiel brachte, als ich versuchte, der Dorothy diese Worte zu übersetzen - und zu erklären.
Kein Wunder, daß DOROTHY so weltfremd ist - von kleinauf erkannte man ihr pianistisches Genie und belästigte sie nicht mit überflüssigem Zeug wie Allgemeinbildung und gesundem Menschenverstand. Ihre Familie war zufrieden, wenn sie übte und übte, und so wurde sie schon in den 40-er Jahren zu einer Klaviersensation mit großem Hang zum Manierismus. In ihrem Stil vermengt sich respektlos RACHMANINOFF mit Boogie-Woogie und ARTHUR TATUM mit ART RUBINSTEIN, und als der Durchbruch im beinharten US-Jazz-Business nicht sogleich und raketenhaft gelang, wechselte sie in die fashionablen Night Clubs und spielte dort - sehr leicht bekleidet - Standards und Evergreens für ein mehr als anspruchsloses Publikum, das mehr auf Beine, Busen und Po achtete als auf ihre kompetent rollende Linke.
Wir hörten sie zum ersten Mal in Nizza (wen nicht?), wo sie Bassisten wie JIMMY WOODE und JAMES LEARY (von der SAMMY-DAVIS jun.-Band) und Drummer wie JO JONES und PANMA FRANCIS mit ihren wahnwitzigen Tempi ebenso zur Verzweiflung brachte wie dann später in Wien ALADAR PEGE, WALTER STROHMAYER, WAYNE DARLING, FRITZ OZMEC und ERICH BACHTRÄGL, die alle perplex darüber staunten, mit welch abrupten Wendungen sie ihre Begleiter durch die Pop-, Jazz- und Klassikliteratur jagt.
Bei einem Gastspiel im Jahr 1981 kam sie einen Tag früher als vorgesehen, und wir besuchten gemeinsam in der Wiener Stadthalle die hinreißende BUBBLING BROWN SUGAR-Show. Natürlich kannte sie die halbe Darstellerliste, und in der Garderobe kam es zu überschäumenden Wiedersehensszenen. Tags darauf begann DOROTHY gerade ihren dritten Set, als plötzlich sieben oder acht schwarze Tänzer und Sänger in unsere Katakomben stürzten. Drinks wurden bestellt, sie quetschten sich zwischen die zahlreich erschienenen Fans und lauschten der entfesselten Dorothy.
Aber Tänzer und Sänger halten es nicht lange im Publikum aus, wenn eine Klassejazzerin wie DOROTHY am Werke ist: nach einigen Takten ging das Temperament durch. Quer über die Sessel kletterten MONA WYATT, JALIA ALEX, SHARON BROOKS, JEAN DU SHON, LON SATTON, KEITH DAVIS und andere auf die Bühne und legten los.
Innerhalb von Minuten verwandelte sich das JAZZLAND in eine schwarze Gospelkirche inmitten von Harlem. Bis in die Grundmauern der Ruprechtskirche muß der stampfende und swingende Rhythmus von dieser herrlichen Session gedrungen sein, das Wiener Publikum konterte und klatschte sachkundig den Takt, und es fehlte nicht viel, da hätten die Tanzakrobaten auf der winzigen Bühne auch noch zu Spagat und Salto angesetzt. Gegenseitig rissen sich die Vokalisten das Mikro aus der Hand, und der Gospel-Train fuhr mitten durch den ersten Wiener Gemeindebezirk. Bis zur blanken Erschöpfung von Publikum und Darstellern ging die Hochstimmung, und wir alle hätten die gute DOROTHY als Dank für dieses Erlebnis stundenlang umarmen mögen.
Die komplette Ernüchterung folgte dann einige Tage später in Wien-Schwechat, als ich am Flughafen meine Schillinge in US-Dollars umwechselte, um die vereinbarte - hohe - Gage zu entrichten. Da verwandelte sich DOROTHY wieder in die Dame aus dem Albtraum jedes Jazzclub-Managers, und mit schriller Stimme lamentierte sie, ob diese paar luckerten Scheine denn alles wären, was ich für ihre Kunst anzubieten hätte, sie sei doch viel mehr wert. Peinlich, peinlich, denn der Kreis der interessierten Zuhörer wurde immer größer, und ihre Stimme immer lauter - und im Prinzip hatte sie recht, denn wenn es eine Gerechtigkeit in der Jazzwelt gäbe, dann müßte sie ihrem Können nach gleich rechts von OSCAR PETERSON sitzen. Ich wäre in diesem Moment sehr gerne woanders gewesen.
Und trotzdem - wenn man sie mir wieder zu einem halbwegs vernünftigen Preis anböte würde ich sofort wieder zugreifen.
Denn was sind alle diese negativen Kleinigkeiten schon gegen das Glücksgefühl, wenn man einem der echten Genies des Jazzpianos lauschen kann.